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Alles ist machbar, Nachbar

Früher hat sie die Bosse beschimpft, dann wurde sie selbst einer. Heute unterstützt Erdtrud Mühlens Projekte von Menschen, die ihr Zusammenleben gemeinschaftlich gestalten wollen

 

Wer ihr begegnet, kann gar nicht anders, als ihrem strahlenden Blick zu verfallen. Blau blitzende Augen, neugierig und, wenn's sein muss, angriffslustig. Erdtrud Mühlens ist das sechste von sieben Kindern, da lernt man Durchsetzungskraft, Verhandlungsgeschick und die Lust – vielleicht auch den Bedarf – an eigenem Profil. Mit sieben Jahren gründete sie den "Club der roten Rosen", der sich auf Mutproben spezialisiert hatte, sie war, na klar, die Anstifterin. Sie ist bis heute eine geblieben.
Erdtrud Mühlens gehört zur Generation der politisch aktiven 68er: Sie formiert damals die Erste "Rote Zelle", verteilt morgens um fünf Uhr Flugblätter in Eiseskälte, sitzt für die Gewerkschaftsopposition in der Tarifkommission, verliert ihren Job wegen aufrührerischen Verhaltens – und wird schließlich selbst zur Unternehmerin. Als Inhaberin einer Agentur für strategische Netzwerke und Kommunikation in Hamburg.
Weihnachten 2004 ändert sich ihr Leben: Auf Sri Lanka im Urlaub kann sie dem Tsunami knapp entkommen – der Schock bleibt. Zurück in Hamburg, fällt es ihr schwer, in ihre Agentur zu gehen. Stapel von Akten. Unverrückt. Und doch ist alles anders. Verrückt ihr Verhältnis zum eigenen Dasein. Was ist wichtig? Wann fühle ich mich zu Hause? Sie hat eine verlässliche Nachbarschaft, nicht zuletzt, weil sie selbst eine prima Nachbarin ist. Aus dieser Erfahrung heraus beschließt sie, ihr unternehmerisches Talent mit einem sinnstiftenden Projekt zu verknüpfen: dem "Netzwerk Nachbarschaft", einem unabhängigen Aktionsbündnis von Nachbarn für Nachbarn. Mühlens finanziert den Aufbau selbst, holt Sponsoren und Freunde wie den Autor Janosch ins Boot. Nachbarschaft, weiß Mühlens, 61, ist eine unerschöpfliche Ressource, die die Lebensqualität erhöht. Ob ein Spielraum eingerichtet werden soll oder eine "Cantina" für Anwohner: Die Veränderung beginnt mit einem Schritt vor die Haustür – inzwischen gibt es 1.500 Initiativen; 160.000 Nachbarn sind dabei, sich deutschlandweit zu vernetzen. Eine Volksbewegung für Gemeinsinn.

 

stern, 27.06.2013