Interview

"Nicht denken, Kritik sei schädlich!"

Dr. Helmuth Rose ist Sozialforscher und Mitglied im Expertenrat von Netzwerk Nachbarschaft. Im Interview erzählt er von seinem Leben im Wohnprojekt und gibt Tipps für selbstverwaltete Nachbarschaftsinitiativen.

Worauf müssen Nachbarn achten, die ein Projekt in „Selbstverwaltung“, also ohne bürokratische Sachzwänge auf die Beine stellen wollen?

Sie sollten im Vorfeld genau festlegen, welche Aufgaben phasenweise anstehen, wer dafür zuständig ist, wie viel Zeit sie erfordern, wie das Ergebnis genau aussehen soll oder welche Kriterien für die Erfolgsbeurteilung gelten sollen, auch, wann eine Phase zu Ende ist. Das geht immer besser, je öfter man es gemacht hat. In unserem Wohnprojekt veranstalten wir jährlich ein Sommerfest. Nach dem ersten Durchgang weiß man, welche Firmen kleine Geschenke spenden und wer die Musik einrichten kann. Durch Erfahrung werden alle Abläufe flüssiger.

Wo entstehen aus Ihrer Erfahrung die meisten Konflikte und wie können Nachbarn sie vermeiden?

Schwierigkeiten können entstehen, wenn Mitglieder der Gruppe für Dienstleistungen bezahlt werden. Ist die Gruppe dann nicht mit dem Ergebnis zufrieden, kann es leicht zu Konflikten kommen. Das sollte man vermeiden. Bezahlte Maßnahmen sollten generell lieber an externe Dienstleister vergeben werden.
Auch ganz wichtig: Kommunizieren! Nicht denken, Kritik sei schädlich! Nur durch Diskussionen können Konflikte gelöst werden.

Welches System eignet sich in der Praxis, um Aufgaben in der Gruppe gerecht zu verteilen – haben Sie Tipps, wie sich die Teilnehmer am besten organisieren?

Wir haben in unserem Wohnprojekt eine so genannte Strukturgruppe. Es gibt Aufgaben, die ständige Aktionen ebenso wie regelmäßige Treffen erfordern. Der lokale Vorstand ist an zwei Abenden in der Woche beschäftigt, mit Aktionen oder bei Treffen. Darüber hinaus gibt es Aufgabengruppen, die sich regelmäßig treffen, aber diese Termine untereinander vereinbaren, zum Beispiel die Aufgabengruppe zur Pflege und Wartung oder zur Gestaltung der Grünflächen. Außerdem gibt es sogenannte Patenschaften. Das heißt, Bewohner des Wohnprojekts sorgen dafür, dass im Gemeinschaftsraum genügend Kaffee und Geschirr vorrätig ist, oder bearbeiten ein Gartenstück – und zwar dann, wenn sie Zeit haben. Wir haben anfangs eine Aufgabentabelle erstellt, wo sich fast alle eingetragen haben – dadurch hatten sie das Gefühl, beteiligt zu sein.

Was ist notwendig, damit das Leben im selbstverwalteten Wohnprojekt funktioniert?

Erstens: Erfahrungen sammeln und austauschen. Zweitens: viele gemeinsame Aktivitäten organisieren. Events wie das Carrera-Turnier, das wir letzte Woche veranstaltet haben, schweißen die Gruppe zusammen – oder auch regelmäßige Veranstaltungen wie Filmabende oder gemeinsames Brunchen. Wir haben auch sehr viele gemeinsame Fahrradtouren in die Umgebung gemacht. Und drittens muss es Orte für gemeinsame Begegnungen geben. Spielmöglichkeiten für Kinder und Treffpunkte wie Gemeinschaftsräume, wo Erwachsene spontan zusammen kommen können. Regelmäßige, vereinbarte und spontane Treffen gehören unbedingt dazu.

Weihnachten in der Brachvogel eG: Feiern Sie auch gemeinsam?

Am vierten Advent gibt es immer einen Umzug bei uns, das Weihnachtsbaumsingen, wo Kinder von Tür zu Tür gehen und ein Weihnachtslied singen. Die Erwachsenen kriegen ein Schnäppschen – und die Kinder ein Kinderschnäppschen. Und dann führen die Kinder eine Liste und schreiben auf, wer einen Baum hat und was daran gefällt. Wer keinen hat, wird kritisiert! Und an Heiligabend mache ich immer eine Märchenstunde für die Kinder.

Lektüretipp:

Helmuth Rose: Nachbarschaftsentwicklung: Erfolgreiche Praxisbeispiele aus der Wohnungswirtschaft.