Interview mit der Gründerin
"Anonymität führt zu Vereinsamung und macht krank“, sagt Erdtrud Mühlens von Netzwerk Nachbarschaft. Sie erklärt, warum es wichtig ist, dass Jung und Alt in der Nachbarschaft zusammenfinden.
Frau Mühlens, wie würden Sie Ihre persönliche Nachbarschaft beschreiben?
Ich unterhalte hier viele persönliche Kontakte zu Nachbarinnen und Nachbarn. Im Haus und in der Straße kennen wir uns gut, auch durch verschiedene Aktionen. Wir haben einen „Lichterzauber“ in den Fenstern veranstaltet und die Straße erstrahlte wie eine große Laterne. Im März fand auf Initiative von Nachbarn ein Innenhofkonzert statt. Viele sangen vom Balkon aus mit, das war Gänsehaut pur. Und ein enormes WIR-Gefühl. Dafür bin ich dankbar.
Welche Werte sehen Sie mit einer guten, intakten Nachbarschaft verbunden?
Für mich zählen vor allem Werte wie Solidarität, Toleranz und Anteilnahme. Ich will Teil meiner Nachbarschaft sein, ich will helfen und auch Hilfe annehmen, ohne Scheu.
Die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe von Jung und Alt ist heute wichtiger denn je. Und wir wissen, dass Anonymität zu Vereinsamung führt und krank macht.
Was macht Nachbarschaft so besonders, und warum lohnt es sich, sie zu fördern?
Nachbarschaft ist eine erlebbare und erreichbare Welt. Hier wohnen die Menschen, die bei Bedarf schnell helfen können, mit denen wir vertraut sind, weil sie Teil unseres Wohnalltags sind. Hilfsdienste wie die Postannahme, Pflanzen gießen oder Einkaufshilfen bis hin zu Babysitting, Werkzeugverleih und Patenschaften fürs Grün im Wohnumfeld sind nur hier möglich. Diese gegenseitige Unterstützung erleichtert uns das Leben, hilft Zeit zu sparen und bietet sozialen Schutz. Dafür lohnt es sich, auf den anderen zuzugehen und sich in die Gemeinschaft einzubringen.
Sie sagen, Nachbarschaft ist die Mikrowelt der Gesellschaft – wie sehen Sie die Nachbarschaft in unserem Gemeindegebiet Harvestehude/Eppendorf?
Nachbarschaft ist eine Mikrowelt, aber eben auch eine heterogene. Es ist ein Unterschied, ob ich im recht privilegierten Viertel wie Eppendorf oder Harvestehude wohne oder in einem Stadtteil Hamburgs, wo es an Grünflächen, sozialen Einrichtungen, Ärzten oder auch Kulturinitiativen mangelt. Ein Merkmal von Harvestehude und Eppendorf ist, dass hier – im Vergleich zu Billwerder mit 53 Prozent – lediglich 2 Prozent Menschen leben, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Die Herausforderung ist in allen Quartieren, das Miteinander ohne Ausgrenzung und mit Blick nach vorne zu gestalten. Ich möchte mit dem Netzwerk Nachbarschaft neue Ideen fördern, die den Zusammenhalt für Haus-, Wohn- und Straßengemeinschaften stärken und die Solidarität der Generationen mit konkreten Maßnahmen beflügeln. Ich möchte Themen wie Wohnungstausch oder Wohngemeinschaften nach vorne bringen. Es gibt hervorragende Beispiele, wie das funktionieren kann, wenn sie innerhalb der Nachbarschaft gedacht und umgesetzt werden.
Wie unterstützt das Netzwerk Nachbarschaft Menschen, die sich in ihrem Wohnumfeld engagieren möchten oder vielleicht auch einfach Anschluss suchen?
Wir unterstützen diese Menschen, indem wir ihnen anhand konkreter, gelebter Beispiele zeigen, wie wertvoll nachbarschaftlicher Zusammenhalt für jeden einzelnen ist und welche Ideen in allen Teilen Deutschlands bereits erfolgreich umgesetzt werden. Wir bieten Checklisten an, hilfreiche Kontakte und Expertise, die NachbarInnen Mut machen, aktiv zu werden. Wir rufen zu Aktionen wie „Gesunde Nachbarschaften“ oder „Jede Wiese zählt!“ auf, die gerade in Corona-Zeiten den Zusammenhalt stärken, das Klima und die Artenvielfalt schützen und Lust auf ein kreatives Miteinander machen.
Das Netzwerk Nachbarschaft agiert bundesweit – wie viele Projekte laufen zurzeit in Hamburg?
In Hamburg haben sich rund 120 Nachbarschafts-Initiativen auf unserer Plattform vernetzt, davon in Eppendorf drei. Mit Sicherheit gibt es in Eppendorf und Harvestehude viel mehr aktive Nachbargemeinschaften. Diese möchten wir herzlich einladen, sich im Netzwerk Nachbarschaft zu registrieren, um zum Beispiel bei Wettbewerben und Förderpreisen mitzumachen.
Seit 17 Jahren gibt es das Netzwerk Nachbarschaft – sehen sie Trends in den Projekten? Bedürfnisse, die sich über die Jahre geändert haben?
Der Trend geht deutlich zu nachhaltigen Projekten, wobei NachbarInnen in Eigeninitiative auch ganz neue Strukturen aufbauen. Dazu zählen etwa Patenschaften, Begegnungsstätten oder Gemeinschaftsgärten. Meist entwickeln sich aus erfolgreichen Aktionen weitere neue Projekte und Initiativen.
Was würden Sie sich für die Nachbarschaft in unserem Stadtteil wünschen?
Ich wünsche den Nachbarschaften gerade in diesen schwierigen Corona-Zeiten, dass sie sich neue, auch kreative Wege erobern, um sich gegenseitig das Leben zu erleichtern und ein neues Miteinander der Generationen zu schaffen. Und ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen erkennen: Gute Nachbarschaft ist eine schier unerschöpfliche Ressource!
Das Interview führte Katja Schormann