"Lebendige Nachbarschaft bereichert nachhaltig"
Helmuth Rose ist Mitglied des Expertenrates von Netzwerk Nachbarschaft. Als Sozialforscher und Kenner vieler Wohnprojekte in ganz Deutschland ist er Experte für die Gestaltung und Weiterentwicklung von Nachbarschaft in Wohnungsunternehmen und Wohnprojekten.
Herr Rose, was meinen Sie damit, dass lebendige Nachbarschaft nachhaltig bereichert?
Starre Nachbarschaft besteht für mich darin, wenn Menschen, die Bewohner in einem Gebäude oder einem Häuserkomplex sind, sich allenfalls grüßen und Hallo sagen, wenn sie sich auf Wegen und Treppen sehen. Lebendige Nachbarschaft ist für mich erst dann gegeben, wenn es zu laufenden Begegnungen kommt, man sich verabredet oder auch spontan trifft, um gemeinsam aktiv zu werden, und sich gegenseitig unterstützt, wenn es eine Situation erfordert. Die Bereicherung besteht darin, dass man außer der eigenen andere Ansichten über Situationen und Prozesse des Wohnumfeldes kennenlernt, weiter Anregungen für Freizeitbeschäftigungen und gemeinsame Vorhaben bekommt, schließlich von anderen Bewohnern lernen kann, soziale Probleme zu lösen oder mit Materialien umgehen zu können. Das individuelle, familiäre oder partnerschaftliche Leben wird vielseitiger.Was für praktische Vorteile gibt es denn nach ihren Erfahrungen in einer nachhaltigen Nachbarschaft?
Vorteile für Familien mit Kindern bestehen darin, dass deren Kinder mit anderen aus Nachbarfamilien zusammen aufwachsen, sozialen Umgang untereinander regeln lernen, gemeinsam in Kindergärten und Schulen gehen. Vorteile für Alleinerziehende bestehen darin, dass die Aufsicht über die Kinder im Freien oder am Abend untereinander geregelt werden kann. Vorteile für Ältere bestehen darin, dass sie sich nach Belieben mit Kindern und Jugendlichen treffen können und dies meistens nur stundenweise. Vorteile für Singles und ebenso für Ältere bestehen darin, dass sie Gespräche mit anderen Nachbarn führen können ohne lange Wege gehen zu müssen. Für alle ergibt sich zudem ein Vorteil, wenn es einen Gemeinschaftsraum oder Grünflächen gibt, wo man sich treffen kann.
Das klingt eindrucksvoll. Aber sind das nicht nur Wünsche, wie es sein sollte? Aus welchem Grund sollen sich Menschen, die nebeneinander wohnen, so verhalten?
Die Betonung des Individualismus in den letzten Jahrzehnten hat dazu geführt, dass grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entwicklung der Menschheit an Beachtung verloren haben. In den Urzeiten der Menschheit lebten die Menschen als Nomaden oder Siedler in Großgruppen, die nur durch gegenseitige Unterstützung und Arbeitsteilung überleben konnten. Hierfür hat die Evolution die Menschen auf der Basis sogenannter Spiegelneuronen mit dem Einfühlungsvermögen füreinander ausgerüstet, der Fähigkeit, uns in die Gedanken, Gefühle und Weltanschauungen anderer hineinzuversetzen. Empathie ist auch die Quelle für das Wir-Gefühl, das man in Gruppen empfinden kann. Und diese Gefühlsebene, Empathie, wird wie das darauf aufbauende Wir-Gefühl in lebendiger Nachbarschaft gestärkt. Ein lebendiger Nachbar fühlt sich zugehörig zur Gruppe, und ist damit mehr als nur ein individuelles Ich.
Und dieses Wir-Gefühl stellt sich ganz von allein ein, nur wenn man sich hin und wieder begegnet?
Die Grundlage bilden verabredete oder spontane Begegnungen, beispielsweise zu Spielen mit Kindern, Geburtstags- und Sommerfesten, Ausflügen, gemeinsamen Filmabenden. Das dadurch geprägte Gefühl wird darüber hinaus gesteigert, wenn es zu Begegnungen kommt, bei denen Nachbarn in offener Kommunikation daran mitwirken, wie das Wohnumfeld gestaltet werden soll, wie verfügbare Gemeinschaftsräume oder Grünflächen genutzt und gewartet werden sollen. Eine weitere Förderung des Wir-Gefühls ergibt sich, wenn Nachbarn bei planvollen Begegnungen die Selbstverwaltung der Wohnanlage übernehmen, wie dies beispielsweise Wohngenossenschaften oder Wohnprojekte von Wohnungsunternehmen tun.
Und das reicht dann aus, bei Begegnungen zusammen zu kommen und miteinander zu kommunizieren?
Es ist die Voraussetzung für das Gelingen von nachhaltiger Nachbarschaft. Wesentlich sind dabei zwei Komponenten. Zum einen geht es darum, dass die Begegnungen in offener Kommunikation verlaufen, d.h. durch vorurteilsfreie Gespräche untereinander stattfinden, alle reden können, und alle einander zuhören, möglichst ohne die Begegnungszeit unnötig durch permanentes Auftreten zu verlängern. Zum anderen entstehen Wir-Gefühle vor allem dann, wenn durch die Begegnungen und sich daran anschließende Aktivitäten gemeinsam positive Erfahrungen gemacht werden, dass das, was die Mehrheit sich wünscht, auch erreicht wurde, ob ohne oder mit Abstrichen. Gemeinsames Erfahrungswissen ist neben der Empathie der wesentliche Faktor für das Mitwirken in lebendiger Nachbarschaft. Und auf diese Weise kann das unsichtbar wirkende Prinzip des Lebens, Resonanz, unmittelbar erlebt werden.
Neben der Mitwirkung haben Sie Selbstverwaltung als Organisationsprinzip nachhaltiger Nachbarschaft betont. Was unterscheidet diese beiden Prinzipien?
Mitwirkung fördert die Eigeninitiative und das aktive Mitgestalten von Nachbarn. Dadurch wird die Lebens- und Wohnqualität für alle erhöht. Organisierte Selbstverwaltung ermöglicht darüber hinaus die Transparenz über die Geschehnisse in einem Wohnprojekt für alle, beispielsweise Abstimmungen über den Einzug neuer Nutzer oder Mieter bei frei werdendem Wohnraum, darüber hinaus vor allem die Transparenz über die Betriebskosten von Wohnraumnutzung, die verfügbaren Mittel hinsichtlich Instandhaltung sowie die im Rahmen der Liquidität noch mögliche Kostenübernahme für Anschaffungen zur Freizeitgestaltung und Finanzierung von Aktivitäten.
Wird dann aber bei der Selbstverwaltung nicht zu viel Engagement von Nachbarn verlangt?
Das stimmt. Es wird viel Engagement verlangt. Für Selbstverwaltung spricht, dass dadurch der Erfahrungsschatz über Nachbarschaftsgestaltung und Nachbarschaftsentwicklung gegenüber dem bei Mitwirkung noch vergrößert werden kann. Je nach Größe einer Wohngruppe, eines Wohnprojekts oder einer Wohngenossenschaft, d.h. des zu verwaltenden Wohnraums, kommt es darauf an, dass die Aufgaben der Selbstverwaltung möglichst auf viele Nachbarn verteilt werden. Hier gilt es, eine Infrastruktur für die Organisation aufzubauen: die Einrichtung einer Leitungsgruppe, die regelmäßige Abhaltung von Wohnprojektversammlungen, die Einrichtung von Arbeitsgruppen, z. B. für die Nutzung von Gemeinschaftsräumen, Grünflächen, Pflege und Wartung von Wohneinheiten, Weg- und Zuzug von Nutzern oder Mietern, und schließlich die Festlegung von Patenschaften für ausgewählte Aufgaben, z.B. Pflege einzelner Grünflächenanteile oder Prüfung von Beständen im Gemeinschaftsraum.
Ist Selbstverwaltung dann nicht doch unübersichtlich und dadurch nicht genügend transparent für alle, was nach Ihrer Ansicht die Förderung von Erfahrungswissen und damit Wir-Gefühl mindern würde?
Unter einer Bedingung nicht. Damit Selbstverwaltung transparent ist, bedarf es der laufenden Dokumentation von Protokollen und Beschlüssen. Darüber hinaus geht es im Sinne von Transparenz auch darum, dass in geregelten Abständen über die verfügbaren Mittel und deren Verwendung berichtet wird.
Und das geht dann alles ohne Spannungen und Konflikte?
Nein, wo es unterschiedliche Meinungen gibt, entstehen auch Spannungen. Es kommt dann darauf an, den Sachverhalt zu klären und sich auf diesen zu beziehen. Gerade bei vielen Aspekten und Alternativen, die es zu berücksichtigen gilt, lassen sich auch neue Wege finden. Krisen eröffnen auch die Möglichkeit für Wandel. In weit gespannten Feldern ergibt sich immer wieder Emergenz, ordnen sich diese Felder neu. Wie ich laufend betont habe, lebendige Nachbarschaft bereichert, eben auch intellektuell.
Helmuth Rose hat nach mehreren Erkundungsfahrten zu Wohnprojekten in ganz Deutschland ein Buch zum Thema „Nachbarschaftsentwicklung“ veröffentlicht. In diesem Buch legt er auf der Grundlage von Beispielen ausführlicher dar, wie Mitwirkung und Selbstverwaltung für nachhaltige Nachbarschaft gestaltet werden kann. Er wohnt im Wohnprojekt Lurup der Bau- und Wohngenossenschaft Brachvogel eG.