Interview mit Gründerin Erdtrud Mühlens
"Anonymität führt zu Vereinsamung und macht krank“, sagt Erdtrud Mühlens von Netzwerk Nachbarschaft. Sie erklärt, warum es wichtig ist, dass Jung und Alt in der Nachbarschaft zusammenfinden.
Frau Mühlens, wie würden Sie Ihre persönliche Nachbarschaft beschreiben?
Ich unterhalte hier viele persönliche Kontakte zu Nachbarinnen und Nachbarn. Im Haus und in der Straße kennen wir uns gut, auch durch verschiedene Aktionen. Wir haben einen „Lichterzauber“ in den Fenstern veranstaltet und die Straße erstrahlte wie eine große Laterne. Im vergangenen Jahr fand auf Initiative von Nachbarn ein Innenhofkonzert statt. Viele sangen vom Balkon aus mit, das war Gänsehaut pur. Und ein enormes WIR-Gefühl. Dafür bin ich dankbar.
Welche Werte sehen Sie mit einer guten, intakten Nachbarschaft verbunden?
Für mich zählen vor allem Werte wie Solidarität, Toleranz und Anteilnahme. Ich will Teil meiner Nachbarschaft sein, ich will helfen und auch Hilfe annehmen, ohne Scheu.
Die Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe von Jung und Alt ist heute wichtiger denn je. Und wir wissen, dass Anonymität zu Vereinsamung führt und krank macht.
Was macht Nachbarschaft so besonders, und warum lohnt es sich, sie zu fördern?
Nachbarschaft ist eine erlebbare und erreichbare Welt. Hier wohnen die Menschen, die bei Bedarf schnell helfen können, mit denen wir vertraut sind, weil sie Teil unseres Wohnalltags sind. Hilfsdienste wie die Postannahme, Pflanzen gießen oder Einkaufshilfen bis hin zu Babysitting, Werkzeugverleih und Patenschaften fürs Grün im Wohnumfeld sind nur hier möglich. Diese gegenseitige Unterstützung erleichtert uns das Leben, hilft Zeit zu sparen und bietet sozialen Schutz. Dafür lohnt es sich, auf den anderen zuzugehen und sich in die Gemeinschaft einzubringen.
Sie sagen, Nachbarschaft ist die Mikrowelt der Gesellschaft – wie sehen Sie die Nachbarschaft in unserem Gemeindegebiet Harvestehude/Eppendorf?
Nachbarschaft ist eine Mikrowelt, aber eben auch eine heterogene. Es ist ein Unterschied, ob ich im recht privilegierten Viertel wie Eppendorf oder Harvestehude wohne oder in einem Stadtteil Hamburgs, wo es an Grünflächen, sozialen Einrichtungen, Ärzten oder auch Kulturinitiativen mangelt. Ein Merkmal von Harvestehude und Eppendorf ist, dass hier – im Vergleich zu Billwerder mit 53 Prozent – lediglich 2 Prozent Menschen leben, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Die Herausforderung ist in allen Quartieren, das Miteinander ohne Ausgrenzung und mit Blick nach vorne zu gestalten. Ich möchte mit dem Netzwerk Nachbarschaft neue Ideen fördern, die den Zusammenhalt für Haus-, Wohn- und Straßengemeinschaften stärken und die Solidarität der Generationen mit konkreten Maßnahmen beflügeln. Ich möchte Themen wie Zeittauschbörsen, Dachbegrünungen und Wohngemeinschaften nach vorne bringen. Es gibt hervorragende Beispiele, wie das funktionieren kann, wenn sie innerhalb der Nachbarschaft gedacht und umgesetzt werden.
Wie unterstützt das Netzwerk Nachbarschaft Menschen, die sich in ihrem Wohnumfeld engagieren möchten oder vielleicht auch einfach Anschluss suchen?
Wir unterstützen diese Menschen, indem wir ihnen anhand konkreter, gelebter Beispiele zeigen, wie wertvoll nachbarschaftlicher Zusammenhalt für jeden einzelnen ist und welche Ideen in allen Teilen Deutschlands bereits erfolgreich umgesetzt werden. Wir bieten Checklisten an, hilfreiche Kontakte und Expertise, die NachbarInnen Mut machen, aktiv zu werden. Wir rufen zu Aktionen wie „Gesunde Nachbarschaften“ oder „Jede Wiese zählt!“ auf, die den Zusammenhalt und die Teilhabe aller Generationen stärken, das Klima und die Artenvielfalt schützen.
Das Netzwerk Nachbarschaft agiert bundesweit – wie viele Projekte laufen zurzeit in Hamburg?
Allein in Hamburg haben sich rund 150 Nachbarschafts-Initiativen auf unserer Plattform vernetzt, davon in Eppendorf vier. Mit Sicherheit gibt es in Eppendorf und Harvestehude viel mehr aktive Nachbargemeinschaften. Diese möchten wir herzlich einladen, sich im Netzwerk Nachbarschaft zu registrieren, um zum Beispiel bei Wettbewerben und Förderpreisen mitzumachen. Bundesweit verzeichnen wir über 4.500 Projekte.
Seit 21 Jahren gibt es das Netzwerk Nachbarschaft – sehen sie Trends in den Projekten? Bedürfnisse, die sich über die Jahre geändert haben?
Der Trend geht deutlich zu nachhaltigen Projekten, wobei NachbarInnen zukunftsfähige Strukturen aufbauen. Dazu zählen Zeittauschbörsen, aber auch Patenschaften für ein gesundes, stressfreies Alltagsleben. Aus erfolgreichen Aktionen entwickeln sich in der Regel intensive Kontakte und weitere Projekte.
Was würden Sie sich für die Nachbarschaft in unserem Stadtteil wünschen?
Ich wünsche mir für alle Nachbarschaften, dass ihr soziales Engagement stärker gesehen und gefördert wird. Gerade in diesen krisenhaften Zeiten sind gegenseitige Hilfe und das vertrauensvolle Miteinander im Wohnumfeld von essentiellem Wert. Netzwerk Nachbarschaft macht modellhafte Projekte sichtbarer und motiviert zu Eigeninitiative. Ich wünsche mir, dass noch viel mehr Menschen erkennen: Gute Nachbarschaft ist eine schier unerschöpfliche Ressource!